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Titel
Fritz Ryff. Der liberale Patron und seine strickenden Arbeiterinnen


Autor(en)
Rogger, Franziska, unter Mitarbeit von Beat Kappeler
Reihe
Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik
Erschienen
Zürich 2019: V & A Books
von
Christoph Zürcher

Vor einem Jahr, anlässlich des Erscheinens der Geschichte über die Firma Merz & Benteli von Walter Thut (Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik, Band 111), beklagte der Rezensierende die schlechte Präsenz bernischer Industriepioniere in der renommierten Reihe zur Wirtschaftsgeschichte der Schweiz. Heute lässt sich mit Befriedigung feststellen, dass das Manko zügig verkleinert wird. Franziska Rogger hat sich der Geschichte einer sehr interessanten stadtbernischen Industriellenfamilie und von deren Unternehmen angenommen.

Wer durchs Marzili spaziert, kann am Eingang zu einem markanten Backsteingebäude an der Sandrainstrasse 3, das heute unter anderem das «Lichtspiel» beherbergt, ein schmiedeeisernes Gartentor bewundern, an dem ein Schild mit einem Schwan prangt. Aber wer weiss schon, dass sich hier der ehemalige Geschäftssitz und das Fabrikationsgebäude der Strickereifabrik Ryff befanden, deren Label «Swan Brand» das Gartentor zierte.

Fritz Ryff wurde als drittes von dreizehn Kindern des Ehepaars Friedrich Ryff und Julie Ryff-Kromer (nach dem Tod des Gatten wurde sie eine bekannte Frauenrechtlerin) 1859 in Corgémont geboren. Der Vater war Kolonialwarenhändler und ab 1860 in Angenstein Ohmgeldbeamter des Kantons Basel-Landschaft. Fritz Ryff erhielt eine sorgfältige zweisprachige Ausbildung, absolvierte eine Banklehre in Basel und war von 1878 bis 1886 für das Kolonialhandelshaus Verminck in Marseille tätig, das er auf den Îles de Los (heute Guinea) vertrat. Zu Afrika behielt er zeitlebens eine intensive Beziehung. Sein einziger Nachkomme Frank entsprang seiner Verbindung mit der «Eingeborenen» Louise Peyton. Frank war später Geschäftspartner seines Vaters. Fritz Ryff machte häufige Afrikareisen und betätigte sich als Sammler von innerafrikanischen Ethnographica, die heute im Historischen Museum Bern aufbewahrt werden.

Zurück in Bern baute er ein eigenes Unternehmen auf. Seine Berufserfahrung und sein gutes Beziehungsnetz erleichterten den Start. Am 15. Januar 1888 eröffnete er mit Arnold Wiesmann, der seit 1886 am Zibelegässli eine kleine Strickwarenmanufaktur betrieb, die Mechanische Strickerei Wiesmann & Ryff an der Wasserwerkgasse 14 in der Matte. Ihre Produkte verkauften sie im Depot «Au Bon Marché» an der Marktgasse 52. Bereits im November 1888 wurden ihre Trikots am Brüsseler «Grand concours international des sciences et de l’industrie» mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. Der Erfolg rief nach Vergrösserung der Produktionsstätte. Noch im selben Monat konnte der Fabrikneubau an der Sandrainstrasse 3 bezogen werden. Die Firma wurde vom enormen Industrialisierungsschub, der in der Schweiz um 1880 einsetzte, mitgetragen. Die Textilexporte stiegen von 1887 bis 1926 von 388 Millionen auf 813 Millionen Franken. Ryff & Cie hatte Engros-Käufer von St. Petersburg über London und New York bis nach Kanada, unterhielt aber auch selbst Verkaufsstellen in der Schweiz sowie ein Depot in Kleindietwil für die Heimarbeiterinnen. Die Zahl der fast ausschliesslich weib- lichen Arbeitskräfte stieg bis 1908 auf 440. Der Niedergang kam schleichend. Fritz Ryff, der am 8. März 1925 starb, war es noch gelungen, den Übergang vom Ausland- zum Heimmarkt in die Wege zu leiten. Aber dann setzten die widrigen Rahmenbedingungen dem Unternehmen langsam zu: Wirtschaftskrise, Zweiter Weltkrieg, Konkurrenz, neue Textilmaterialien, neue Modeströmungen, neue Techniken, Uneinigkeit in der Familie. 1957 wurde es liquidiert. Die Stadt Bern kaufte das Fabrikensemble.

Die Ryff & Cie funktionierte als Teil eines Clusters: Dazu gehörten die Zulieferer von Maschinen und technischem Zubehör, Firmen aus der Verpackungsbranche, Firmen der Bandweberei und Ausrüstung, Energielieferanten, die internationale Transportfirma Jacky Maeder in Basel, die Telegrafenwerkstätte Hasler sowie verschiedene Banken.

Die Firma war auch ein Musterbeispiel eines Familienbetriebs. Mehrere Familienmitglieder hielten Teile des Aktienkapitals, einzelne, so der Bruder von Fritz Ryff, Hans Otto, und die jüngste Schwester von Ryffs Gattin, Marthe, leiteten zeitweise die Firma. Fritz Ryff sass im Verwaltungsrat der französischen Firma seines Bruders. Er beteiligte sich auch an den Unternehmungen seines Sohnes Frank in Lagos.

«Der liberale Patron» ist ein Teil des Buchtitels. Es könnte auch heissen «der sozial denkende Patron». Tatsächlich war die Ryff AG in ihrer Blütezeit ein fortschrittliches Unternehmen. Das zeigte sich etwa darin, dass ab 1900 eine grosse Kantine bestand, in der der Patron dreimal in der Woche mit den Arbeiterinnen ass. Es standen Duschen und Wannenbäder zur Verfügung, ein Arzt- und ein Krankenzimmer; Salon und Leseraum, Pavillon und Wandelhalle fehlten nicht. Die Arbeitsschürzen wurden in der eigenen Wäscherei gewaschen. Beliebt waren die jährlichen Personalausflüge. Ab 1889 gab es eine obligatorische Krankenkasse, seit 1897 eine freiwillige Sparkasse für die Arbeiterinnen, dazu eine Unterstützungs- und Erholungskasse, Stillgeld und Mutterschaftsurlaub von acht Wochen und ab 1912 drei Tage bezahlte Ferien. Die Berichte des Fabrikinspektors waren des Lobes voll. Das verhinderte nicht, dass 1917 auch die Ryff AG in den Strudel der sozialen Unrast geriet. Am 4. Juni 1917 wurden aus den strickenden Arbeiterinnen streikende Arbeiterinnen. Der Grund: Die Geschäftsleitung hatte zwei im Gewerkschaftsvorstand tätige Arbeiterinnen entlassen. Daraufhin traten 280 Ryff-Arbeiterinnen in den Streik. Der liberale Patron foutierte sich im Übrigen um Fabrikgesetz und Empfehlungen der Schlichtungskommission.

Diese an Dramatik reiche Familien- und Firmenbiografie wird flüssig und spannend erzählt und mit vielen Illustrationen angereichert, von Schnittmustern über Familien- fotos bis zu Aufnahmen aus dem Fabrikalltag. Das Ganze ist eingebettet in ein dichtes Gefüge von Hintergrundinformationen zum Beispiel zur technischen Entwicklung der Strickmaschine oder zum wirtschafts- und sozialpolitischen Umfeld. Eine höchst empfehlenswerte Lektüre. Das einzig Störende: Die Anmerkungen sind kapitelweise im Anhang zusammengefasst und nicht nummeriert, was die geneigte Leserin zum ständigen Blättern und Suchen zwingt.

Zitierweise:
Christoph Zürcher: Rezension zu: Rogger, Franziska; unter Mitarbeit von Beat Kappeler: Fritz Ryff. Der liberale Patron und seine strickenden Arbeiterinnen. (Schweizer Pioniere der Wirtschaft und Technik, Bd. 113). Zürich: Verein für wirtschaftshistorische Studien 2019. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 82 Nr. 1, 2020, S. 72-74.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 82 Nr. 1, 2020, S. 72-74.

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